Göttin in Frankreich
"Ich will da nicht hin! Die Franzosen sind ekelig! Die essen Frösche!"
Solche und ähnliche Sprüche höre ich noch sehr oft auf der elfstündigen Busfahrt nach Arras, unserer Zielstadt für den Schüleraustausch in diesem frühen Sommer 1999.
Ich weiß nicht, was die alle für ein Problem haben. Ich war schon oft in Frankreich und fand es dort immer herrlich. In Beg Meil in der Bretagne, auf der Île d"Oléron und an anderen Urlaubsorten habe ich jedes Mal eine gute Zeit verbracht. Es gab Fritten und Eiscreme. Frösche musste ich nie essen und kein Franzose hat mich bisher schlecht behandelt.
Doch die Panik meiner Klassenkameraden steckt an. Was ist, wenn ich in dieser Woche wirklich ein Horror-Frankreich zu spüren bekomme?
Meine Corres heißt Mathilde und ist eine zierliche, bildhübsche und kesse Persönlichkeit. Sie spricht kein Wort deutsch, was für mich eine Herausforderung ist.
Als wir auf den Hof der Familie fahren, fühle ich mich buchstäblich wie eine Göttin in Frankreich. Wiesen, Ställe, Ponys.
Das Schlafzimmer ist in warmen Orangetönen tapeziert und das Himmelbett in der Mitte des Raums gehört in dieser Woche mir.
Zum Abendessen gibt es Pizza, zum zum Einschlafen eine Runde Nintendo Super Mario und zum Frühstück Schokopops mit Milch, die Mathilde ihrem Hund zum Schlecken gibt.
In der Schule treffe ich am nächsten Morgen meine Freunde, die abenteuerliche Horrorstories von ungenießbaren dîners und unfreundlichen Gastfamilien zum Besten geben. Ich traue mich kaum zu gestehen, dass bei mir alles bestens ist, gerade zu traumhaft! Wer kann schon von einem Himmelbett mit Ausblick auf eine Pferdekoppel schwärmen?
Nur Mathildes Bruder spricht nicht wirklich mit mir, was ich jedoch verkraften kann.
Das Mensaessen kann zwar mit Pommes Frites und Hühnchen punkten, doch das labbrige Wasser ohne Kohlensäure ist ungenießbar. Die Schulbusfahrt nach Hause gestaltet sich für mich Schissbuchse sehr dürftig, als eine Clique älterer Jungs meint, sich über uns Mädchen in der Unterzahl lustig machen zu müssen. Ich verfüge weder über ausreichend Courage noch über das notwendige Vokabular, um mich verteidigen zu können.
Der Feiertag Christi Himmelfahrt ist in dieser Woche als Familientag geplant. Viele meiner Mitschüler fahren nach Paris, doch ich verbringe diesen Tag mit meiner Gastfamilie auf dem 70. Geburtstag von Mathildes grand-mère.
Glücklich bin ich nicht. Ich werde zwar gut behandelt, doch als Außenseiter fühle ich mich in der jugendlichen Clique trotzdem.
Umso glücklicher bin ich, als wir am nächsten und letzten Tag in dieser Frankreich-Woche ein Aquarium-Museum mit der Klasse besuchen.
Bei der beeindruckenden Seehund-Show fällt mein Blick auf die Meereskulisse, die auf eine Glasscheibe der Stellwände gemalt ist.
Moment!
Das ist doch nicht wirklich das Meer?
Ein Traum wird wahr! Ich picknicke am Strand mit meiner Klasse!
Dieses Highlight wird getoppt, als Mathilde und ich an meinem letzten Abend ausreiten dürfen. Mein erster Ausritt!
Wir jagen im wilden Galopp über die Stoppelfelder, hinter dessen Hügel man nicht erahnen kann, was sich dort verbirgt. Doch das ist uns egal – eine Bundesstraße wird es schon nicht sein.
Die befährt der Bus erst am Samstag gen Heimat.
Au revoir, la France! Bis zum nächsten Urlaub!