Ein Friese namens Aladdin
Eigentlich hatte Jini sich auf das neue zu Hause gefreut. Ein Leben in der Natur auf dem Land fernab der Großstadt, in der sie aufgewachsen ist, eine neue Schule mit neuen Freunden – und jetzt hockt sie hier im Schneidersitz an der Bushaltestelle, wartet auf ihre Mutter und zieht eine Fluntsch, die dem Sonnenschein Paroli bietet. "Großstadt-Prolli" hatten die Mädchen aus ihrer Klasse sie genannt. Dabei wollte sie wirklich nur neue Freunde kennenlernen. Das blonde Mädchen mit den lila Haarsträhnen hatte ihr besonders gefallen. Viola heißt sie. Doch leider war sie Diejenige, die am lautesten gelacht hat.
Ein plötzlich aufleuchtender Blitz zieht Jini aus ihren Kummer-getränkten Gedanken.
Was war das?
Auf der gegenüberliegenden Koppel glänzt das schwarze Fell des majestätischen Pferdes mit der gewellten, langen und ebenso glänzend schwarzen Mähne. Jini steht auf, lässt ihre Schultasche achtlos unter dem Bushaltestellenhäuschen stehen und schreitet langsam auf den Friesen zu. Sie streckt vorsichtig ihren Arm über das Gatter, hält ihm die geöffnete Handfläche entgegen und versucht, ihn dadurch zu locken. Noch eben galoppierte der stolze Hengst über die Koppel, doch jetzt bleibt er stehen, betrachtet Jinis blonden Haarschopf, trottet langsam auf sie zu und beschnuppert sie vorsichtig.
Seine Nüstern fühlen sich weich und zart an. Ein bisschen feucht sind sie, denn jetzt schnaubt der Hengst.
"Ich heiße Jini", stellt sie sich vor.
Eine laut drängelnde Autohupe lässt den Hengst aufschrecken und davon galoppieren.
"Jini! Los! Steig ein!" ruft ihre Mutter hinter ihr durch das geöffnete Autofenster.
Am nächsten Tag kann sich Jini in der Schule kaum konzentrieren und auch die blöden Sprüche der Mädchen sind ihr egal. Sie denkt nur an den Hengst.
"Ich nenne dich Aladdin!" beschließt sie, als sie Mittags wieder an der Koppel steht. "Kennst du das Märchen vom Flaschengeist und der Wunderlampe?"
Der Friese schnaubt.
"Wir drehen das Märchen einfach um! Ich hab" jetzt drei Wünsche frei. Den ersten hast du mir schon erfüllt, weil du mein Freund bist. Und jetzt will ich dich reiten!"
Prüfend schaut sie sich um, doch Niemand ist in Sichtweite. Jini steigt auf das Gatter, klettert auf den Rücken, haut dem Friesen die Fersen in die Seite und liegt kurz darauf im Matsch.
"Diese Runde ging an dich", bemerkt Jini und rappelt sich auf, "aber nochmal machst du das nicht mit mir."
Sie steigt wieder auf das Gatter, lockt den Friesen und sitzt zwei Sekunden später für eine halbe Schritt-Runde auf dem Rücken des erhabenen Friesen.
"Geht doch", grinst sie. "Sag mal, wenn du so ein Zauberpferd bist, kannst du mir dann auch Freunde in der Schule zaubern? Ich verstehe einfach nicht, warum sie mich nicht mögen."
Plötzlich galoppiert der Friese los. Jini reagiert schnell genug, krallt sich in der langen Mähne des Pferdes fest und saust mit ihm über die Koppel. Zwei ganze Runden hält sie durch, bis sie knapp neben ihren alten Spuren in der Matschpfütze liegt.
"Das war toll!" jubelt sie, steigt wieder auf"s Gatter, lockt den Friesen und beginnt das Spiel von vorne.
Schritt, Galopp, Segelflug, Aufrappeln.
Gerade möchte sie wieder auf das Gatter steigen, als sie von der Bushaltestelle lautes Kindergelächter hört. Ein Junge ruft: "Schaut euch die an! Die checkt"s echt nicht!"
"Halt die Klappe!" ruft ein Mädchen. "Die hat wenigstens Mut!"
Jini dreht sich um. Es ist Viola.