Betty und die Pferde
Wasserstoffblond, braune Augen, mittelgroß, athletisch und ein lachen, das in diesem riesigen Saturn-Markt von der CD-Abteilung bis in die Waschmaschinenregion zu hören ist. Diese Frau hat wirklich keine Hemmungen, die Welt an ihrem lebensfrohen Gemüt teilhaben zu lassen. Nahezu jeder Bewohner dieser Kleinstadt würde sich vor Pein die Hand vor den Mund halten, umschauen, ob jemand guckt, ob jemand hört, denn laute Emotionen sind entweder asi oder verrückt. Man muss tun, was sich gehört. Anstand. Als wären wir im viktorianischen Zeitalter.
Doch Betty tut das nicht. Sie hält sich nicht die Hand vor den Mund, sondern erhellt den Laden mit ihrem Strahlen.
So eine Frau hat Carlene noch nie gesehen. Verrückt, aufgeschlossen, fröhlich – das Leben kann so leicht sein! Und Betty scheint ein Paradebeispiel für diese Mentalität zu bieten.
So stehen Carlene, Betty und Carlenes Vater also in der Rockmusik-Abteilung des Saturn-Marktes und quatschen. Betty ist die Arbeitskollegin von Carlenes Vater, wohnt mit ihrer Patchworkfamilie in einem alten Fabrikloft und züchtet Bartagamen. Als sei das nicht Extravaganz genug, haust auch noch eine sieben Meter lange Pythonschlange in einem Terrarium im Wohnzimmer, die alle viertel Jahre ein lebendes Huhn verspeist.
"Übrigens", sagt Carlenes Vater drei Wochen später nach dem Saturn-Einkauf, "Betty hat gefragt, ob du mal mit ihr reiten möchtest."
Im tiefen Winter bei Minus zwei Grad schlottert Carlene also vor der Haustür und wird von Betty abgeholt. Carlenes Gefühlswelt ist ebenso eisig wie dieser Winter. Siebzehn Jahre alt sein ist nicht immer Zucker. Doch Bettys Strahlen erhellt auch Carlenes düsteres Gemüt.
So fahren Betty und Carlene zum Reitstall und wärmen sich beim Pferde striegeln auf.
Das warme, duftende Fell glänzt schon bald wie die zugefrorenen Seen in der Wintersonne und das zufriedene Schnauben der erhabenen Fuchsstute entspannt Carlene.
"Ich dachte mir, wir reiten aus", schlägt Betty vor.
Carlene war mental eigentlich auf einen Ritt in der Halle vorbereitet gewesen. Seit zwei Jahren saß sie nicht mehr auf einem Pferderücken und ausgeritten ist sie auch noch nie
"Ach, das klappt schon." Bettys Zuversicht findet Carlene schon beinahe naiv. Aber genau das braucht Carlene jetzt. Jemanden, der sie ins kalte Wasser schmeißt. Auch in gefrorenem Aggregatzustand in Form von Schnee und Eis.
Hänger ankuppeln, Pferde verladen, ab in den Wald fahren. Ein wenig fühlt sie sich wie im Film "Der Pferdeflüsterer". In der Anfangssequenz reiten die Mädchen auch durch den Wald.
Oh! Moment! Die Sequenz endet mit einem beinahe tödlichen Unfall!
Schnell vergräbt Carlene das Horrorszenario mental im Schnee, führt ihren Fuß in den Steigbügel des Sattels der leicht nervösen Stute und steigt aus ihrer sicheren, wohl behüteten und von Angst gepeinigten Welt auf den ihr so vertrauten Pferderücken.