Debütalbum
Das – war"s!
Zweieinhalb Worte in einer SMS, die Lucas Welt an diesem Morgen von einem Viermaster zu einer Nussschale im Sturm auf hoher See transformieren. Ausgerechnet Tristan! Seit genau zehn Jahren ist sie in ihn verliebt! Vor zwei Jahren hatte sie es endlich geschafft, dass er sich auch in sie verliebt, und das soll nun vorbei sein? Warum eigentlich?
Bruchstückhaft erinnert sich Luca an die vergangene Nacht im Club. Tristan an der Bar. Mädels um ihn herum, fragen nach Autogrammen und lassen sich von ihm einladen. Flirten eben. Das ist Luca gewohnt, seit Tristan als Schlagzeuger der Band Indiosynchrasy überregionale Bühnen bespielt. Ein Streit, zwei oder drei Tequila – okay, vielleicht auch sieben oder neun. Und dann diese SMS! Und eine noch viel schlimmere Erklärung, warum denn nun ausgerechnet jetzt alles vorbei sein soll: "Du ziehst nichts durch, was du anfängst! Außerdem nehmen wir gerade unser Debütalbum auf und da kann ich nerviges Rumgezicke und vorwurfsvolle Untertöne echt nicht gebrauchen!"
"Ich hau" dir auch gerne die Obertöne um die Ohren, wenn du das willst!" patzt Luca zurück.
"Als wenn du wüsstest, was das ist", lacht Tristan herablassend.
Luca überlegt kurz, ob sie ihn nochmal kurz darauf hinweisen soll, dass sie mit ihren 23 Jahren als zwar sehr junge, aber dennoch erfolgreiche Musikjournalistin sehr wohl Ahnung von Musik hat, behauptet dann aber übermütig: "Was ihr hier macht, kann ich schon lange!"
"Du willst ein Album aufnehmen? Du kannst doch noch nicht mal Triangel!"
Zwei Tage später sitzt Luca ihrem hippiesken Gitarrenlehrer namens Andi gegenüber und versucht, gelassen in D-Dur zu jammen, doch Andi unterbricht sie: "Du musst das fühlen! Bleib im Groove! Spür" den Beat! Häng" dich so richtig rein! Spürst du die Vibes?"
"Nein."
"Was wird"n das für"n Album? Soul? Pop? Rock? Wave? Dance? Trip Hop? Klassik? Barock?"
"Barock???"
Andi wühlt in seiner rot-gelb-grün-gestreiften Häkeltasche, holt eine Jimi-Hendrix-CD hervor und gibt sie Luca: "Hier, gib dir das. Dann reden wir weiter."
Spitze. Erst lässt ihre Gesangslehrerin Georgina sie hängen und jetzt auch noch Andi. Dabei will sie doch nur Tristan zeigen, dass sie es drauf hat!
Missmutig steht Luca wenig später in der U-Bahn und jault: "You know you"re a cute little heartbreaker!" Ein dunkelhaariger Pilzkopf steht mit einem Gitarrenkoffer zwischen den Füßen ein paar Schritte von ihr entfernt und schmunzelt sie an. Luca nimmt ihre Kopfhörer ab und geht entschlossen auf ihn zu: "Kennst du ein paar Musiker?"
Eine halbe Stunde später steht Luca zwischen Marshall-Türmen und einem 24-Kanal-Mischpult in einem ihr fremden Probenraum und singt ihren ersten, selbst komponierten Text zu der zuvor festgelegten Akkordfolge einer ihr unbekannten Band. Der Pilzkopf namens Alex unterbricht Luca: "Sorry, aber so können wir das unmöglich durchziehen. Darf ich?" Er nimmt Luca den Text aus der Hand und schmettert die Verse ins Mikrophon. Es klingt perfekt. Die Jobs werden verteilt: Luca schreibt, der Rest macht Musik. Schreiben kann sie sowieso besser.
Ihr Chef Becker ruft an und fragt, wo sie bleibt. Verflucht! Seit zwei Stunden müsste sie in der Redaktion sein! Die Standpauke fällt verhältnismäßig groß aus. Wenn sie ihren Job behalten wolle, solle sie ein Interview mit Tristans Band führen, weil es noch an Material für die neue Ausgabe fehle: "Abgabetermin ist Freitag nächste Woche. Meine Urlaubsvertretung kümmert sich drum."
Spitze.
Vier Tage später sitzt Luca auf dem abgewetzten Cord Sofa in dem ihr bekannten Probenraum und löchert die Jungs nach der Bedeutung ihrer Songs und den Inspirationsquellen ihrer Texte. Wechselduschenartig möchte Luca Tristan an die Gurgel und um den Hals fallen und kreist parallel in Zeitschleifen. Sie erinnert sich an Momente in der Schulzeit, als Tristan ihr im Mathematikunterricht geduldig erklärte, was eine Orthogonale ist, als er ihr sein Freundschaftsbuch gab, in das dummerweise schon die komplette Klasse herein geschrieben hatte, und als er ihr in der siebten Klasse per Briefchen gestand, dass er in ihre beste Freundin Lea verliebt sei.
"War"s das?" fragt Tristan und holt sie zurück in die Gegenwart. Nein, denkt Luca, das war es noch lange nicht, das kann es nicht gewesen sein!
Als die Jungs aufstehen und sich zurück an ihre Instrumente begeben wollen, nimmt Luca Tristan zur Seite: "Können wir reden?"
"Haben wir doch gerade!"
Arschloch.
Lucas Handy schellt. Alex. Wo sie denn bleibe. Verdammt! Sie hatte völlig vergessen, dass sie eigentlich mit der Band im Studio verabredet war.
"Das ist jetzt schon das zweite Mal in dieser Woche!", beschwert sich Alex und packt seine Noten zusammen, "wir arbeiten hier alle für Umme. Da muss"n bisschen mehr Einsatz von dir kommen!"
"Einsatz? Von mir? Das ist mein verdammtes Album!"
"Wenn das so ist, dann kommst du ja alleine klar", kontert Alex und verlässt gefolgt vom Rest der Band das Studio. Er dreht sich noch einmal um: "Vielleicht solltest du dich lieber fragen, worum es dir wirklich geht!"
Witzig. Das wüsste sie selber gern. Was hatte sie vor zwei Jahren anders gemacht?
Zong! Stromausfall. Alex muss den Hauptschalter der Sicherung ausgeschaltet haben, als er mit den anderen hinausgegangen ist.
Luca sitzt im Dunkeln. Aber nur für zwei Sekunden, denn blitzartig leuchtet das Licht sofort wieder auf.
Blitzlicht!
Eine Fotostrecke von Luca als imaginäre Musikerin inklusive Rezension über ihr nicht existierendes Debütalbum wird hinter dem Interview der Band Indiosynchrasy abgedruckt und katapultiert Luca inklusive Pappkarton unter dem Arm hinaus vor das Hauptgebäude, vor dem ein begeisterter Leser wartet und nach einer signierten CD verlangt.
Luca schmunzelt. Manchmal macht eben nicht der Ton die Musik.