Der Mixtape-Freund
Jedes Mädchen braucht einen guten Freund. Egal, ob schwul, bi oder hetero, egal, ob fünf, zwölf oder siebenundzwanzig Jahre alt.
Und ich hatte so einen Freund. Sieht man von den zwei guten Sandkastenfreunden ab, die ich im Kindergarten kennengelernt und zu denen ich leider keine Kontakt mehr habe.
Die Freundschaftsgeschichte zwischen Chris und mir beginnt sogar bei unseren Großmüttern, die ebenso wie unsere eigenen Mütter beste Freundinnen sind.
Und wie jeder beste Freund im Leben hat auch Chris eine Aufgabe. Er beeinflusst meinen musikalischen Werdegang massiv, leitet mich in eine geschmackvolle Richtung und zeigt mir viel aus der hörbaren Welt der niveauvollen Klänge.
Er erstellt mir Mixtapes!
Wir schreiben die 1990er. Spotify und MySpace sind noch Zukunftsmusik – im wahrsten Sinne des Wortes.
Ich besitze gerade mal einen Kassettenrecorder. CD-Player und dazugehörige CDs sind halbe Luxsware für Teenager und so ist es jedes Mal ein Geschenk für mich, wenn ich bei Chris zu Besuch bin. Wir sehen uns nicht oft, denn er wohnt nicht mal eben um die Ecke. Eine halbe Stunde Autofahrt trennen uns, die Busverbindungen sind mies und unsere Eltern haben nicht immer Zeit, uns zueinander zu kutschieren.
So sind unsere seltenen Treffen für mich jedes Mal etwas Besonderes. Er hört "The Dome", "Bravo Hits" und deutschen Hip Hop, ein bisschen Rock und auch die Platten seines Vaters. Ich übertreibe nicht, wenn ich behaupte, dass Chris" Musikgeschmack einen Großteil meiner musikalischen Erziehung gestaltet.
So übt er sich früh im DJ-ing, redaktioneller Programmzusammenstellung oder Soundtrack-Gestaltung meines juvenilen Lebensabschnitts.
Er ist weder DJ, Radiomoderator noch Musikredakteur, sondern Geisteswissenschaftler. Doch sein Hobby beherrscht er.
Ich habe viel nachzuholen. Zahlreiche, hippe Songs sind an mir vorbeigegangen und bei meinen Mitschülern kann ich kaum mithalten. Sie wissen, was cool und hip ist. Doch Chris rettet mich. Wie Freunde das so tun.
Mehr noch, er inspiriert mich!
Wenn Chris nicht wäre, wüsste ich als erwachsene Frau kaum, wie ich meine musikalischen Wissenslücken füllen könnte.
Und so erstelle ich mithilfe dieser Mixtapes und eines Doppelkassettendeck-Recorders meine eigenen Song-Remix-Versionen. "Aqua" fügt sich an Songschnipsel aus "Supa-Richie" und Britney, Christina und Konsorten und Stefan-Raab-Zitate fügen sich subtil in eine Maria-Carey-Refrain-Schleife.
Ein wenig stressig sind die kurzen Songabschnitte anzuhören. Aber wer braucht in den 1990ern schon Entspannungsmusik?